J. Lepore: Diese Wahrheiten

Cover
Title
Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika


Author(s)
Lepore, Jill
Published
München 2019: C.H. Beck Verlag
Extent
1120 S.
by
Aram Mattioli, Historisches Seminar der Universität Luzern

In «These Truths», ihrem elften Buch, unternimmt die 1966 geborene Harvard-Historikerin Jill Lepore den ambitionierten Versuch, Ursprünge, Verlauf und Konsequenzen des «amerikanischen Experiments» (S. 13) von Christoph Kolumbus bis Donald J. Trump in einem einzigen Band darzustellen. Ganz auf der Höhe der Zeit geht sie davon aus, dass die Vereinigten Staaten von Amerika immer schon eine multiethnische Gesellschaft waren. Um die gewaltige Stoffmenge in den Griff zu bekommen, verengt sie den Fokus auf die politische Geschichte des Landes und widmet der Sozial-, Kultur- und Militärgeschichte, wie sie selber weiss, «nur sehr wenig Aufmerksamkeit» (S. 19). Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht die ohne Zweifel wichtige Frage, wie die in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als selbstverständlich erachteten Aufklärungsideen – politische Gleichheit, naturgegebene Rechte und Volkssouveränität – in der Gesellschaftsentwicklung zum Tragen kamen oder von ihr dementiert wurden. Den darstellerischen Kern bildet damit das «amerikanische Paradox» (Edmund S. Morgan): die Freiheit und politische Gleichheit weisser Bürger, die auf der systematischen Versklavung von Afrikanern gründet, und für die Zeit nach der Emanzipation (1865) die anhaltende rassistische Diskriminierung der afroamerikanischen Minderheit, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der USA ziehen – wenn auch in historisch variablen Formen.

Ein solcher Ansatz ist keineswegs neu. Auch wenn man nicht den Massstab einer «histoire totale» anlegt, mutet er reduktionistisch an. Tatsächlich springt ins Auge, wie viele Dimensionen amerikanischer Geschichte in dieser Synthese fehlen oder bloss als Randthemen behandelt werden: die Westexpansion, die Entwicklung des Kapitalismus, die sozialen Konflikte, die Immigration, das kulturelle Leben, die Geschlechterbeziehungen, die Zerstörung der Umwelt und der Klimawandel etwa, aber auch der Aufstieg der USA zur globalen Supermacht, die von Amerika geführten Kriege und die Aussenpolitik. Zudem blickt Lepore von der Ostküste auf ihren Gegenstand, was erklären mag, weshalb sie Grossregionen wie den Südwesten oder das «Heartland» stiefmütterlich behandelt. Stattdessen nehmen in ihrem «old-fashioned civics book», das mit «altmodischem Gemeinschaftsbuch» (S. 18) nicht ganz adäquat übersetzt ist, Präsidentenwahlen, Verfassungsdiskussionen, Entscheide des Supreme Court, populistische Politiker und konservative Ideen, aber auch die Meinungslenkung, die Medienentwicklung und wichtige Bucherscheinungen breiten Raum ein. Bei allem Respekt kann dies unmöglich das Einzige sein, «was ein Volk, das eine Nation bildet, zu Beginn des 21. Jahrhunderts […] über die eigene Vergangenheit wissen muss» (S. 18).

Lepores Wälzer ist einem nationalgeschichtlichen Narrativ verpflichtet, das weitgehend auf transnationale Perspektiven und globale Einordnungen verzichtet. Spitz merkte der Standford-Professor Richard White an, dass ihre Darstellung viele Kenner der Materie, die sich nicht als Präsidentenbiografen sehen, enttäuschen müsse. Das Werk wendet sich in der Tat mehr an das grosse Publikum als an Fachangehörige. Am dichtesten gearbeitet sind die ersten 180 Seiten zu den Jahrhunderten zwischen 1492 und 1799, in denen sich die Autorin am besten auskennt. Bis zu «These Truths» hat sie sich als Spezialistin für das frühe Amerika einen Namen gemacht, mit preisgekrönten Fallstudien über den King Philip’s War (1675/76) und die New Yorker Verschwörung (1741). Die Schilderung setzt am 12. Oktober 1492 mit Kolumbus’ Landung auf Guanahani ein und geht von der fruchtbaren These aus: «Die Gründungswahrheiten der Nation wurden in einem Schmelztiegel der Gewalt geschmiedet, sie waren das Ergebnis von ausserordentlicher Grausamkeit, Eroberung und Gemetzel, der Ermordung ganzer Welten» (S. 34).

Entgegen den geweckten Erwartungen spielt die Eroberung Nordamerikas durch europäische Invasoren und die Dezimierung und Verdrängung der First Peoples nur zu Beginn eine Rolle. Zu den indigenen Überlebensstrategien und Widerstandsformen hat Lepore wenig zu sagen, über die grosse Pockenepidemie während des Unabhängigkeitskrieges und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf das «Indian Country» gar nichts. Für die Zeit nach 1700 wechselt der Blick ganz auf die Ausbildung des Sklavereisystems in den englischen Küstenkolonien. Im Unterschied zu Neuspanien und Neufrankreich errichteten die Briten entlang der Atlantikküste eine «ganz andere und brutalere Form der Rassenherrschaft, eine Form, die nur zwei Formen kannte, schwarz und weiss, und zwei Formen von Rechtsstellung, Sklave und Freier» (S. 104). So zugespitzt stimmt diese Aussage nicht, gab es in den Küstenkolonien doch stets auch Heerscharen von «indentured servants» aus Westeuropa und damit eine andere Form unfreier Arbeit. Wenig überzeugend ist die Behauptung, dass der entscheidende Anlass für die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 nicht der von König Georg III. verhängte vorläufige Siedlungsstopp und der wachsende Steuerdruck gewesen sei, sondern das Angebot des britischen Gouverneurs von Virginia, alle Sklaven, die sich in die loyalistische Armee meldeten, in die Freiheit zu entlassen.

Grundsätzlich zu wenig Beachtung findet in Lepores Werk, dass in der US-Gesellschaft neben der «Color-line» und der politischen Spaltung zwischen Liberalismus und Konservativismus auch andere Konfliktlinien existieren – soziale, wirtschaftliche, kulturelle. Uninspiriert fällt ihre Schilderung des 19. Jahrhunderts aus, wo viele zentrale Themen wie die Verdrängung und Dezimierung der Native Americans oder die entfesselte kapitalistische Wirtschaft des «Gilded Age», aber auch die Masseneinwanderung, das industrielle Amerika und selbst der Bürgerkrieg unterbelichtet bleiben. Begrüssenswert ist dagegen, dass Lepore neben den Mächtigen durchgängig auch Machtlosen eine Stimme leiht, etwa David Walker, Nat Turner, Frederick Douglass oder John Brown, die sich auf unterschiedlichen Wegen für eine Abschaffung der Sklaverei engagierten und damit für eine inklusivere Republik. Nicht frei von zivilreligiösem Pathos heisst es allerdings an einer Stelle auch: «Das amerikanische Experiment hatte bis zu den 1830er Jahren die erste grosse Demokratie eines ganzen Volkes der Weltgeschichte hervorgebracht» (S. 245).

Das 20. Jahrhundert beansprucht mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs des Buches. Dem Jim Crow-Amerika und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung räumt die Autorin viel Raum ein. Mit der «separate, but equal»-Doktrin (1896) des Obersten Gerichtshofs gewann die Konföderation, die den Bürgerkrieg verloren hatte, den Frieden. Dennoch staunt man, dass Lepore das Pogrom von Tulsa (1921), bei dem ein weisser Mob bis zu 300 Afroamerikaner ermordete und ihr «Black Wall Street» genanntes Wohnquartier abfackelte, oder die berüchtigte Todesstudie von Tuskegee, in der Mediziner im Auftrag des Gesundheitsministeriums 399 an Syphilis erkrankte Afroamerikaner bis 1972 einem qualvollen Sterben aussetzten, keiner Erwähnung für wert befindet. Die Roosevelt-Ära und den in den Kalten Krieg nachwirkenden New-Deal-Konsens begreift Lepore als Kulminationspunkt amerikanischer Geschichte. Herausgestrichen wird allerdings, dass auch die New-Deal-Programme dem Prinzip der Rassentrennung folgten und Franklin D. Roosevelt nichts gegen die im Süden weit verbreitete Praxis des Lynchens unternahm. Auch die Nachkriegsgesellschaft war noch lange von institutionalisierter Rassenungleichheit geprägt, bis schliesslich der «Civil Rights Act» (1964) der Segregation wenigstens den rechtlichen Boden entzog.

Die ganze Zeit seit dem Rücktritt von Richard Nixon (1974) wird von Jill Lepore schliesslich als die einer ständig wachsenden Polarisierung gedeutet. «In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stellten Liberale wie Konservative», heisst es an einer Stelle, «die anhaltenden, aus den 1960er Jahren überkommenen Streitpunkte nicht mehr als Fragen von Recht und Ordnung, sondern als Fragen von Leben und Tod dar. Entweder stand Abtreibung für Mord und Waffen standen für Freiheit, oder Waffen standen für Mord und Abtreibung für Freiheit» (S. 787). Ein grosses Gewicht nimmt im letzten Teil der politische Aufstieg des New Yorker TV-Reality-Stars Donald J. Trump zum 45. Präsidenten ein, der vor dem Hintergrund von Amerikas «Kaltem Bürgerkrieg» (Torben Lütjen), dem Bedeutungsverlust der Qualitätspresse und dem Aufkommen der sozialen Netzwerke erklärt wird. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass dieser populistische Präsident mit seinen Twitter-Kanonaden kein Betriebsunfall der Geschichte war. Denn: «Aus den Tiefen der amerikanischen Politik schöpfte diese Wahl den widerwärtigen Schmutz alter Hassgefühle» (S. 943).

Jill Lepore, die neben ihrer Professur als festangestellte Journalistin beim «New Yorker» arbeitet, schreibt mit einer feinen Feder. Je weiter die Darstellung in der Zeit allerdings voranschreitet, desto essayistischer wird sie. Mit ihrer Erzählfreude treibt Lepore es zuweilen zu weit, so etwa wenn sie festhält, dass die Präsidentengattin Betty Ford 1975 eine Journalistin «auf einem Sofa mit Blumenmuster im Wintergarten in der zweiten Etage des Weissen Hauses» (S. 785) empfing oder Barack Obama ein «schmales Gesicht, grosse Ohren und eine kupferfarbene Haut» (S. 915) habe. Lepore will eine neue Lesart amerikanischer Geschichte entwickeln. Das gelingt ihr nicht wirklich. Dazu hätte es einer grösseren Konsequenz bedurft, um die Asymmetrien und Absenzen der Standarderzählung auszubügeln. Mit «These Truths» hat sie das konventionelle Narrativ um die Leidens- und Emanzipationsgeschichte der schwarzen Minderheit erweitert. In einer Zeit, in der der systemische Rassismus sein hässliches Gesicht immer wieder zeigt, leistet ihre faktenbasierte Darstellung jedoch einen Beitrag zur kritischen Gegenwartsaufklärung.

Zitierweise:
Mattioli, Aram: Rezension zu: Lepore, Jill: Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, München 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 512-515. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

Editors Information
Author(s)
Contributor
First published at
Additional Informations
Type